Faktenwissen in Zeiten des Internets

[Update 01.06.2019] Inzwischen bin ich durch Burkhart Firgau auf einen Beitrag von Prof. Christian Spannagel gestoßen, den dieser bereits 2013 veröffentlich hat und der sehr prägnant einige wichtige Punkte zu diesem Thema anspricht: Muss man eigentlich nix mehr wissen?


Kürzlich bin ich durch Lars Reitze auf einen Tweet von Alice Keeler, einer US-amerikanischen Lehrerin, aufmerksam geworden.

 

Lars’ Kommentar dazu war:

Wenn man praktisch immer Zugriff auf das Internet und damit auf fast das komplette „Wissen“ der Welt hat, muss man keine Fakten mehr wissen, denn man kann ja bei Bedarf schnell nachschauen. Diese Haltung wird seit einigen Jahren häufig vertreten und propagiert, auch von vielen netzaffinen Lehrern. Das geht so weit, dass der Begriff „Faktenwissen“ schon beinahe ein Schmähbegriff geworden ist, ein Symbol für das „alte verkrustete System“.

Ich halte diese Position für falsch. Ich denke, es ist in Zeiten des fast ubiquitär verfügbaren Internets genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger als „früher“, so viel wie möglich selbst zu wissen.

Was ist Faktenwissen?

Ein Problem bei dieser Diskussion ist die Klärung des Begriffs „Faktenwissen“. In dem von Alice Keeler geposteten Cartoon nennt der Junge drei Fakten: Wer hat die amerikanische Unabhängigkeitserklärung geschrieben? Wo starb Napoleon? Wann betrat der erste Mensch den Mond? Diese soll er auswendig lernen (memorize) und die Maus nennt sie ihm ohne zu zögern, nachdem sie die Antworten schnell mit dem Smartphone nachgeschaut hat. Am Ende sagt die Maus, dass sie damit wohl praktisch alles wisse.

„Wissen“ bedeutet in diesem Zusammenhang das Erinnern von einzelnen Fakten. Wenn das die Vorstellung des „Faktenwissens“ ist, das als überflüssig angesehen wird, dann kann ich das in einem ersten Schritt nachvollziehen. In der Tat wäre es recht zweifelhaft, wenn man für einen Geschichtstest diese drei Fakten ohne näheren Kontext auswendig lernen müsste und wenn sie in dieser isolierten Form abgefragt würden. Allerdings spräche diese Situation nicht gegen das Wissen von Fakten sondern gegen die schlechte Gestaltung von Lernprozessen, in denen Fakten isoliert bleiben und nicht dem Verständnis von Zusammenhängen dienen.

Wenn es also darum geht, dass man das Lernen isolierter Fakten in Zeiten des Internets für überflüssig hält, so würde ich in den meisten Kontexten zustimmen. Allerdings ist mir diese Form des Faktenlernens bisher nicht sehr oft begegnet – weder als Schüler noch als Lehrer. Und wenn doch jemand einmal verlangt hätte, dass ich solche isolierten Fakten auswendig lerne, dann war diese Forderung nicht die Ursache, sondern ein Symptom des Problems: Dass der betreffende Lehrer nämlich nicht in der Lage war, das gemeinsame Erarbeiten von sinnvoll eingebettetem Wissen angemessen zu initiieren und zu gestalten.

Diese Fakten sind dennoch nicht per se sinnlos. Es ist sinnvoll, dass ein amerikanisches Kind lernt, wer wann die Unabhängigkeitserklärung verfasst hat – sofern es in diesem Zusammenhang auch lernt, was die Gedanken der Verfasser waren, worauf sie historisch reagierten, was sie mit der Erklärung bewirken wollten, was sie tatsächlich bewirkt haben etc. Die Namen sind in diesem Kontext wichtig, weil sie ständig kulturell referenziert werden und weil man die Referenzen nicht versteht, wenn man mit dem Namen nicht vertraut ist.

Natürlich könnte man einen Namen, den man bei seiner Nennung nicht versteht, nachschlagen, aber in der Praxis tut man das meiner Erfahrung nach bei Weitem nicht so oft, wie es nötig oder möglich wäre. Einerseits muss man erstmal darauf kommen, eine Referenz zu vermuten, um ihr nachzugehen. Andererseits ist es in vielen Situationen nicht praktikabel nachzuschlagen, weil selbst die halbe Minute, die das dauert, zu lang ist. Das wäre zum Beispiel in einer Diskussion der Fall, in der die Rede auf ein bestimmtes Konzept kommt: Wenn die eine Teilnehmerin mit dem Konzept vertraut ist, der Gesprächspartner aber nicht, wird der Zweite unterlegen sein, auch wenn er das Konzept prinzipiell nachschlagen könnte. Viel zu lang dauert das Nachschlagen beim Lernen selbst. Wenn ich ein Phänomen verstehen möchte, muss ich mit zahlreichen Begriffen und Konzepten bereits vertraut sein, die zur Erklärung des betreffenden Phänomens referenziert werden. Auch wenn ich alle prinzipiell nachschlagen könnte, bringt mich das in der Praxis nicht weiter, weil ich schnell in einem unendlichen Zirkel des Nachschlagens gefangen bin, ohne beim ursprünglichen Phänomen weiter zu kommen. Das kann jeder praktisch erleben, wenn er einen Wikipedia-Artikel zu einem halbwegs komplexen Phänomen liest.

Was ist Wissen?

Mein Wissensbegriff orientiert sich an der folgenden Darstellung einer Pyramide:

Wissenspyramide

Von Bernard Ladenthin (Eigenes Werk) [Public domain], via Wikimedia Commons

Daten sind das Fundament, aus dem durch Strukturierung der Daten Informationen erwachsen. Wissen ergibt sich aus Informationen, wenn ein Individuum diese verarbeitet und sie in den eigenen Erfahrungs- und Handlungskontext einbindet. Dabei werden sie in Zusammenhänge eingeordnet und somit mit bestehendem Wissen vernetzt. Die zu lernenden Elemente im Cartoon oben wären also eher Informationen als Wissen. Und genau das würde ich auch der Maus am Ende entgegnen, die meint, sie wüsste nun praktisch alles: Sie hat potentiell Zugang zu (fast) allen Informationen. Ohne Kontext sind diese aber nicht nur meist nutzlos, sondern geradezu problematisch, weil die Flut der kontextlosen Informationen mehr verwirrt als hilft. Dieses Problem haben oft Schüler, wenn sie in der Wikipedia nachschlagen. Wenn ihr Vorwissen zu dem betreffenden Thema gering ist, bleiben die Informationen im Artikel ohne Kontext. Es ist schwierig zu entscheiden, was im aktuellen Zusammenhang wichtig und was weniger wichtig ist, viele Begriffe sind unbekannt und hinterlassen damit weitere Kontextlücken.

Wenn man also davon ausgeht, dass mit Faktenwissen nicht isolierte Informationen gemeint sind, sondern dass man darunter kontextgebundenes, vernetztes Wissen versteht, das auf Fakten beruht, kann man sagen: Je größer mein Ausgangswissen ist, desto leichter fällt es mir, darauf aufbauend weiteres Wissen zu erarbeiten. Da lebenslanges Lernen in vielen Lebensbereichen sehr wichtig geworden ist, sind also die im Vorteil, die schon viel wissen. Ihr Vorteil gegenüber den „Nachschlagern“ wird immer größer, je mehr Wissen sie sich aneignen.

Beispiele

Die Diskussion um die Bedeutung von Faktenwissen wird meist theoretisch geführt. Zumindest habe ich bisher noch kaum konkrete Beispiele gelesen, wo und wie das Faktenwissen überflüssig geworden ist und wie eine alternative Gestaltung von Lernprozessen aussehen könnte, deren Grundlage nicht auch Faktenwissen einbezieht. Ich will daher einige Beispiele beschreiben, in welchen Situationen in meinem persönlichen Erfahrungsraum faktenbasiertes Wissen große Bedeutung hat.

Einstieg in ein neues Arbeitsfeld

Seit einigen Monaten betreue ich mit einem Kollegen zusammen an unserer Schule das Netzwerk. Wir haben uns die Aufgabe nicht direkt ausgesucht, es gab den Bedarf, dass das jemand machen muss und wir gehörten zu denen, die zumindest einen gewissen Zugang zu dem Feld hatten. Was wir allerdings kaum hatten und immer noch kaum haben, ist Wissen über Server und Netzwerke. Zwar kommen wir beide mit unseren privaten Rechnern gut zurecht, aber ein Netzwerk mit achtzig Rechnern verschiedenster Art zu verwalten ist etwas völlig Anderes und erfordert ganz andere Kenntnisse.

Ich erlebe also seit einigen Monaten, wie es sich anfühlt, wenn man über ein Tätigkeitsfeld wenig weiß. Das fängt bei den Begriffen an, von denen ich viele nicht kenne. Dieses fehlende Wissen führt dazu, dass ich auch mit Nachschlagen nicht weiter komme, denn wenn sich ein Problem ergibt, weiß ich oft gar nicht, wonach ich suchen soll. Dann lerne ich oft zunächst einen Begriff oder ein Konzept durch Nachschlagen oder Nachfragen. Ich lerne also zunächst scheinbar banale Fakten: „Dieses Bauteil ist ein Switch. Es hat folgende Funktion …“. Da die umfassende Fortbildung noch aussteht, arbeite ich mich so Schritt für Schritt vor, meist durch den Erwerb von isoliertem Faktenwissen. Zu mehr reicht die Zeit meist nicht, denn es geht in der Regel darum, ein konkretes Problem zügig zu lösen.

Nach einigen Monaten beginnt nun langsam die Phase, in der sich die Einzelfakten in Kontexte einordnen lassen. Begriffe tauchen wiederholt auf, ich erkenne Zusammenhänge zwischen den Einzelfakten. Verständnis entsteht – langsam zwar, aber spürbar. Von tiefgreifender Anwendungskompetenz bin ich noch weit entfernt, in einer Klassenarbeit zum Thema Netzwerke würde ich über Fragen im Anforderungsbereich I kaum hinaus kommen. Dennoch hilft mir auch schon dieses Wissen, meine Aufgabe einigermaßen zu bewältigen. Einfache Aufgaben und Probleme kann ich lösen. Ohne diese Faktengrundlage wäre das kaum möglich. Außerdem ist die Faktengrundlage nötig, um überhaupt zu einem mehr anwendungsbezogenen und problemlösenden Wissen zu gelangen.

Verständnis der Umwelt

Schmalblättriges Weidenröschen

Schmalblättriges Weidenröschen

Ich habe Freude am Verständnis der belebten und unbelebten Natur, die mich umgibt. Ein Aspekt davon ist die Kenntnis der Tier- und Pflanzenarten, die mir in meinem Alltag begegnen. Seit vielen Jahren versuche ich daher, meine Artenkenntnis zu erweitern indem ich Pflanzen und Tiere bestimme, wenn ich sie antreffe: „Diese Pflanze sieht so aus und heißt Schmalblättriges Weidenröschen (Epilobium angustifolium). Sie gehört zur Familie der Nachtkerzengewächse (Onagraceae)“. Das ist zunächst fast kontextloses Faktenwissen, hat aber einige Konsequenzen: Durch die Kenntnis des Namens, bin ich in der Lage, die Pflanze als „Gegenstand“ anzusprechen, der sich von anderen Pflanzen unterscheidet. Durch ihren Namen ist sie in meinem Kopf ein identifizierbares Element geworden, das ich wieder erkenne und auf das ich künftig aufmerksam werde, wenn es mir begegnet. Dadurch wiederum kann ich darauf aufmerksam werden, wann und wo ich diese Pflanze antreffe und kann darin Muster erkennen. Das wäre nicht möglich, wenn die Pflanze für mich nur eine von vielen rosaroten hohen Pflanzen wäre, die an allen möglichen Orten wachsen. Über ihren Namen erschließt sich mir auch die Erweiterung meines Wissens. Ich kann nachschlagen, welche Eigenschaften dieses Weidenröschen hat, an welchen Standorten es typischerweise wächst, warum ich es immer an den Standorten finde, an denen es mir begegnet ist etc.

Es gibt ziemlich viele Pflanzen und Tiere. Daher bleibt es bei vielen bei der reinen Namens- und Familienkenntnis. Aber auch das ist schon besser als die Unkenntnis, denn immer, wenn mir eine Pflanze oder ein Tier oder ein Gestein oder eine Landschaftsform begegnet, die ich mit Namen ansprechen kann, habe ich einen Zugang, eine Verbindung zu diesem Element. Meine Umwelt rückt näher an mich heran und ist mir weniger fremd. Ich kann mich in ihr besser orientieren und mehr „darin zu Hause fühlen“ als wenn diese Dinge namenlos an mir vorbei zögen.

Verständnis von biologischen Prozessen

In der Biologie geht es in der Schule darum, ein Grundverständnis für die Prozesse des Lebens zu erarbeiten. Ab der Mittelstufe gehören dazu auch vertiefte Einsichten in die Abläufe auf zellulärer Ebene: Funktionsweise von Zellen, molekulare Grundlagen der Vererbung, Genetik, Gentechnik etc. Wenn man in diese Prozesse einsteigt, ist man oft zunächst überwältigt von der Komplexität und der Vielzahl der Elemente, die ineinander greifen. Man muss zunächst vereinfacht beginnen und das bedeutet meist, dass man erstmal lernt, welche Elemente es in der Zelle gibt, wie sie heißen und welche Funktion sie grob haben.

  • „Das ist der Zellkern, in ihm liegt das Erbgut (Desoxyribonukleinsäure, DNA), dieses steuert fast die gesamten Abläufe in der Zelle.“
  • „Das ist ein Mitochondrium, in ihm findet die Zellatmung statt, mit der die Zelle für sich nutzbare Energie erzeugt.“
  • „Dies ist das Endoplasmatische Reticulum …“

Auch das scheint zunächst kontextloses Faktenwissen zu sein, aber es ist essentiell dafür, überhaupt den nächsten Schritt gehen zu können und Abläufe in Zusammenhängen zu verstehen. Möglicherweise bleibt es einige Monate oder Jahre lang sogar bei diesem ersten Wissensschritt, aber man kann ihn nicht überspringen, um gleich Anwendungen oder Problemlösungen anzugehen.

Klärung einer konkreten Alltagsfrage

Neulich habe ich für meine Werkstatt einen digitalen Winkelmesser gekauft. Für das Gerät wird eine Genauigkeit von 0,1° angegeben. Nun wollte ich wissen, welcher Strecke diese 0,1° bei einem bestimmten Radius entsprechen. Konkret: Wenn ich einen Winkel an meiner Säge einstelle und ein 10 cm dickes Holz damit säge, wie groß wäre dann die Abweichung, die sich bei dieser Ungenauigkeit ergibt?

Zunächst wollte ich das Problem zeichnerisch lösen (ich weiß ja noch, wie man mit einem Geodreieck einen Winkel zeichnet). Allerdings fiel mir auf, dass schon die Einteilung ganzer Gradschritte auf dem Geodreieck ziemlich eng ist und dass ich wohl kaum davon ausgehen könnte, ein Zehntelgrad sinnvoll anzuzeichnen. Die Dicke eines spitzen Bleistifts wäre wohl schon größer als ein Zehntel Grad beim Radius eines Geodreiecks. Außerdem war mein Ehrgeiz geweckt, das nun rechnerisch zu ermitteln. Ich googlete also, z.B. „Verhältnis Winkel Strecke“ und landete unter anderem auf dieser Wikipedia-Seite. Das half aber nicht viel, denn es fehlte mir ein entscheidendes Stück Faktenwissen: Wie heißt die Strecke eines Kreises, die einem bestimmten Winkel entspricht? Das hätte man in Mathe damals lernen, ja sogar auswendig lernen können – ohne Sinn und Verstand hätte man es sich merken können und heute hätte es genützt. Stattdessen musste ich abwarten, einen Mathekollegen ansprechen und ihm mein Problem wortreich erklären, um zu erfahren, dass ich das Bogenmaß suche und wie ich in meinem konkreten Fall diese Strecke ausrechnen kann.

Fazit

Wenn man Faktenwissen als das Auswendiglernen von Informationen (also isolierter Fakten ohne Kontext) definiert, ist es bei nahezu ständig verfügbarem Zugang zum Internet in vielen Situationen nahezu überflüssig.

Wenn man darunter aber faktenbasiertes Wissen versteht, also Informationen, die in einen individuellen Sinnzusammenhang eingebettet und mit bereits vorhandenem Wissen und vorhandenen Erfahrungen verknüpft sind, ist diese Art von Wissen heute genauso wichtig wie eh und je. Seine Bedeutung mag sogar gegenüber früher gewachsen sein, da viele Menschen sich alltäglich neues Wissen aneignen müssen und dazu das Internet nutzen. Die dort vorhandenen Informationen müssen gefiltert, geordnet und beurteilt werden, um z.B. ihre Relevanz und Verlässlichkeit einzuschätzen. Wenn man wenig Wissen hat, ist das nur schwer möglich. Wenn man bereits viel weiß, gibt es schon einen reichen Schatz an Kontexten im Kopf, mit denen man neue Informationen verknüpfen kann, so dass das Lernen neuer Dinge leichter fällt.

Abgesehen davon können aber auch einzelne Informationen nützlich und wichtig sein, wie man in den obigen Beispielen gesehen hat. Oft sind einzelne Fakten der erste Schritt zur Erarbeitung komplexeren Wissens und die Zeitspanne zwischen der Erarbeitung eines „Faktenhappens“ und den dazu gehörigen Kontexten kann sehr lang sein.

Schließlich kann man sich auch ganz persönlich daran erfreuen, viel zu wissen und damit eine Menge Dinge zu verstehen. Herr Rau hat das mal in einem Blogpost sinngemäß so formuliert (ich habe die genaue Quelle leider nicht gefunden, daher nur aus der Erinnerung): Wenn er die Wahl hätte, mit jemandem ein Bier zu trinken, der viel weiß oder mit jemandem, der weiß, wo er alles nachschlagen kann, würde er die erste Person aussuchen. – Ich auch.

Um also auf den Tweet von Lars Reitze zu antworten, auf den übrigens auch Heiko Schneider schon auf den Punkt geantwortet hat:

Building fact-based knowledge is the future.

Und nun freue ich mich auf Widerspruch und konkrete Beispiele, in denen meine Argumentation nicht funktioniert!

14 Gedanken zu „Faktenwissen in Zeiten des Internets“

  1. Ich warte auch geypannt auf Gegenbeispiele, von denen es sicher viele gibt, aber ich bin erst mal ganz deiner Ansicht. Klar kann man sagen, dass du mit deinem Selbstlernen zeigst, dass genau das ohne vorhandenes Wissen geht – es stimmt aber nicht, weil die erste Phase dabei ja doch die des mühsamen Wissenserwerbs ist.

    Ein weiterer Gesichtspunkt: Man wird nur nachschlagen, wenn man weiß, dass man etwas nicht weiß. Wenn ich zu wissen glaube, was DNA ist bzw. welche Aspekte davon im Moment relevant sind, werde ich nicht nachschlagen. Selbst wenn ich gar nichts weiß – irgendein Weltbild kann ich mir mit Halbwissen ja immer zurechtkonstruieren. Und dann gibt es Fälle, wo ich gar nicht merke, dass da etwas nachzuschlagen wäre – kulturelle Anspielungen etwa.

  2. Ich habe gerade sogar darüber nachgedacht, einen noch konservativeren Standpunkt zu vertreten. Warum? Ich glaube, isoliertes Wissen gibt es nicht oder ist sehr schwer herzustellen. Das typische Beispiel ist Geschichte: Man lernt (scheinbar stupide) Jahreszahlen und „wichtige“ Ereignisse auswendig. Isoliert? Wenn ich eine völlig andere Epoche anschließen würde, vielleicht. Ansonsten geht es immer um einen Bezugsrahmen, um eine Referenz, die eine weiterführende, problemorientierte Fragestellung erst ermöglicht.
    Deshalb stimme ich sowohl dem Ausgangsartikel in seiner These, dass die besagte Form von faktenbasiertem Wissen auch heutzutage noch Bestand hat, absolut zu. Und auch dem, was Herr Rau anfügt: Dass man nur mit Vorwissen weiß, was man nicht weiß. Nachzuschlagen würde allerdings schon eigenes Interesse voraussetzen. Wenn wir in einen noch von Zwängen geleiteten Bildungskontext, der Schule oft ist, gehen, bedeutet die Schlussfolgerung, dass eine Grundlage aufgebaut werden muss, vor deren Hintergrund dann eine selbstständige, weiterführende Beschäftigung mit Unterthemen erfolgen kann.
    Dass heutzutage jeder alles abrufen kann, ist eine Mär. Und mehr (pun intended): Um etwas mit der Informationsflut anfangen zu können, die jeden von uns täglich umgibt, muss man eigene Referenzpunkte vorweisen können.

  3. Versuch einer Gegenrede: Lob des Faktenwissens mag schön und gut sein, aber seien wir ehrlich – lohnt es sich wirklich, auf die letzten 10% Wissenszuwachs vielleicht 50% der Energie zu verwenden? Sooo viel Wissen bleibt ja gar nicht hängen, wie wir uns einreden. Wäre es da nicht sinnvoller, diese Energie in andere Dinge zu stecken? Wenn das mit dem Faktenwissen nicht klappt, sollten wenigstens andere Kompetenzen geübt werden – wenn das ergiebiger ist.

    1. Das mit dem Aufwand ist ein valider Punkt, allerdings: Es gibt ja keine definierten 100 %, weil man nie sagen kann, dass man in einem Bereich (Was IST überhaupt ein Bereich?) alles weiß. Insofern bleibt einem meines Erachtens nichts anderes übrig, als möglichst viel zu lernen.

      Und natürlich bleibt nicht alles hängen. Ich weiß natürlich auch nicht alles, was ich gerne wüsste und vergesse vieles wieder. Im Artikel fehlt die Unterscheidung zwischen Detailwissen und Orientierungswissen, darauf bin ich erst im Nachhinein durch einen Tweet von @matizmusic gekommen. Und es ging mir hauptsächlich darum, den Wert von Faktenwissen gegenüber den Verfechtern des Nachschlagens überhaupt mal darzulegen.

      Ich denke, man sollte versuchen (als Lerner und als Lehrer), eine solide Faktengrundlage zu legen, die in einem strukturierenden Orientierungsrahmen eingebettet ist.

  4. „Möglichst viel“ – vielleicht nicht, wenn das mit dem Lernen nach dem law of diminishing returns funktioniert: Wenn durch eine Reform die Schüler 10% weniger wüssten, aber nur halb so viel Zeit dafür bräuchten, dann wäre die Reform zu befürworten, weil die gewonnene Zeit dann für anderes genutzt werden kann.

    So ein klein bisschen glaube ich daran, aber größtenteils nicht. Eher gilt nämlich der Matthäus-Effekt: Wer viel weiß, wird leicht noch mehr wissen.

    1. Vielleicht klarer: Mit „Möglichst viel“ meinte ich, dass man keine günstige Lerngelegenheit auslassen sollte, weil man vielleicht denkt, man könne das später ohnehin nachschlagen. Wenn ordentlich was davon hängen bleibt, hat man was davon, wenn nur ein wenig davon hängen bleibt, hat man zumindest einen Anhaltspunkt fürs Nachschlagen.

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